Das Ego – Krankmacher Nr. 1
Je stärker unsere inneren Bilder unterdrückte Gefühle oder unbefriedigte Bedürfnisse widerspiegeln, desto mehr zehren sie an uns - und belasten unsere Gesundheit. In diesem Video erklärt Henning Zitscher, wie unser Ego psychosomatische Beschwerden auslöst – und wie sich der Kreislauf in sechs Wahrnehmungsstufen auflösen lässt.Was ist das Ego?
Das Ego ist das mentale Bild, das wir von uns selbst erschaffen – geprägt durch Erinnerungen, Bewertungen, Rollen und emotionale Verknüpfungen. Es entsteht durch die Identifikation mit bestimmten inneren Zuständen und dem Bedürfnis, sie als „Ich“ zu definieren.
Wie entsteht das Ego?
Das Ego entsteht aus einer geistigen Vermischung zwischen vergangener und aktueller Selbsterfahrung. Dabei wird die Perspektive früherer Erlebniszustände aktuellen Phänomenen – etwa Geräuschen, Bildern oder Gedanken – zugeordnet, die das damalige Selbstgefühl begleitet haben. Diese Phänomene tragen nun die Eigenschaft in sich, das gegenwärtige Selbsterleben gewissermaßen „von außen“, also aus der Umwelt heraus, zu übernehmen, während die tatsächliche Selbstwahrnehmung unbewusst wird. Das Ego identifiziert sich mit diesen über die Umwelt gespiegelt wahrgenommenen Selbsterleben und verknüpft sie mit einer inneren Geschichte der Neigungen und Bewertungen. So entsteht ein persönliches Narrativ, das das Selbstgefühl formt und im Geist verankert.
1. Die sinnliche Wahrnehmung – Kopie der Außenwelt
Die Wahrnehmung beginnt mit der unveränderten Aufnahme physikalischer Sinnesreize. Diese werden vom Körper in den Geist „kopiert“ und erscheinen dort zunächst als rohe, unbearbeitete Repräsentationen. In diesem frühen Stadium sind sie beobachtbar als reine Soheit – frei von Interpretation oder Emotion.
Reflexionsfrage:
Welche Sinneseindrücke hast du heute unbemerkt aufgenommen?
2. Die erste emotionale Färbung – Muster und Instinkt
Auf grob unterscheidbaren Sinnesmustern zeichnen sich instinktive emotionale Reaktionen ab. Diese Grundlagen wirken wie ein Filter und beeinflussen die weitere Verarbeitung: Sie bestimmen, wohin unsere Aufmerksamkeit gelenkt wird und wie wir auf das Wahrgenommene reagieren.
Mini-Übung:
Schließe die Augen, atme tief ein und verfolge eine Emotion, die gerade hochkommt. Notiere sie in einem Journal.
3. Raumwahrnehmung und Assoziation
Die Sinnesmuster differenzieren sich weiter aus und werden mit vergangenen Erlebnismomenten assoziiert. Diese Assoziationen tragen Erinnerungen an das damalige Selbsterleben in sich – ein Erleben, das nicht im Körper verortet wird, sondern wie etwas von außen Betrachtetes erscheint. Es entsteht eine doppelte Wahrnehmungsebene: die des aktuellen Phänomens und die der damit verknüpften Assoziation.
Praxis-Tipp:
Wenn dich ein Bild oder Geräusch innerlich berührt, frage dich: Mit welcher früheren Situation ist das verbunden?
4. Die Bewertungs-Lücke – Ursprung des Ego
Zwischen Wahrnehmung und Reaktion entsteht eine kleine, oft übersehene Lücke. In diesem Zwischenraum findet eine Bewertung statt: Die Assoziation wird hinsichtlich ihrer emotionalen Bedeutung geprüft. Trägt sie Elemente, zu denen man erneut eine Beziehung aufbauen oder eine Beziehung vermeiden möchte, verschmilzt die aktuelle Selbstwahrnehmung mit dem erinnerten Selbstbild. Die beiden Ebenen – die gegenwärtige Wahrnehmung und das vergangene, assoziierte Selbsterleben – beginnen, sich miteinander zu vermischen. Dabei werden die assoziierten Phänomene, die ursprünglich mit dem vergangenen Selbstgefühl verknüpft waren, den aktuell wahrgenommenen Eindrücken zugeordnet. Es entsteht eine dialogische Situation, in der die erinnerten Eigenschaften der früheren Erlebnisse auf die gegenwärtigen Phänomene projiziert werden. Das aktuelle Selbsterleben wird nun als Gegenüber zu diesen vergangenen Inhalten betrachtet – ein innerer Dialog wird möglich. Infolge dieser inneren Verschmelzung verliert sich der Bezug zur ursprünglichen Form und zur bewussten Wahrnehmung des Moments. Eine überpersönliche, nüchterne und vernünftige Sichtweise ist in diesem Zustand nicht mehr möglich. Stattdessen gewinnt das innere Narrativ die Oberhand.
Übung:
Halte fünf Atemzüge inne, wenn du bemerkst, dass dein Ego sofort bewertet.
5. Die dialogische Vermischung von Raum und Selbst
In dieser Verschmelzung erscheinen Umwelt und Selbstbild als getrennte Kompartimente: Ich und Du, Ego und Umwelt. Die überpersönliche Raumsicht geht verloren, und die eigene Identität wird als Ego mit Lokalität im Körper verstanden. Die Welt wird zum Spiegel des inneren Zustands: Gefühle, Gedanken und Körpersensationen werden so verarbeitet, als könne die Umwelt sie „mitsehen“. Daher beginnt die narrative Umwelt, wie im Traum, auf den inneren Zustand zu reagieren – narrative Reaktionen entstehen, die sich nicht mehr auf das Außen beziehen, sondern die eigene Innenwelt ins Außen projizieren.
Gedanken-Impuls:
Wie projizierst du gerade deine Innenwelt ins Außen?
6. Die heilende Praxis – Im Raum der Wahrnehmung verweilen
Der Abstand zwischen Wahrnehmung und Reaktion – unsere „Bewertungs-Lücke“ – wird durch innere Bedürfnisse und Ängste bestimmt. Je stärker die emotionale Erwartung oder Furcht, desto reflexhafter reagiert das Ego: Die Antwort entspringt dann nicht der Beobachtung, sondern einem Gemisch aus Wunsch/Angst und Bewertung. Wer lernt, in der unmittelbaren Wahrnehmung zu verweilen, beobachtet die aufkeimende emotionale Färbung, ohne sich mit ihr zu identifizieren. Diese Achtsamkeit verlängert die Bewertungs-Lücke und erhält die überpersönliche Selbstwahrnehmung. In diesem Zustand entsteht kein narratives Ich und der Beobachter bleibt frei von belastenden Emotionen - das erleben unbelastende Gefühle wie unbedingte Freude, Liebe oder Mitgefühl bleiben davon unberührt. So wird sichtbar, dass alle belastenden Gefühle aus der Beziehung zum Ego und dessen Geschichten entstehen. Durch die überpersönliche, achtsame Beobachtung erkennen wir, dass unser eigentliches Selbst nicht an einen Körperort gebunden ist, sondern sich im offenen Raum der Wahrnehmung entfaltet.
Abschließende Übung:
Setze dich jeden Morgen fünf Minuten in Stille und beobachte die entstehende Bewertungs-Lücke.
Bonus-Übung:
Betrachte einen Gegenstand für 60 Sekunden ohne Urteil. Dann beschreibe ihn, ohne ihn zu benennen. Was verändert sich?
Was bleibt, wenn das Ego sich auflöst?
Wenn die Illusion des Egos sich auflöst, erscheinen die wahrgenommenen Phänomene lediglich als Form, Klang und andere Sinneseindrücke. Die damit verbundenen inneren Bilder werden als bereits erlebt erkannt, und der Ursprung der Wahrnehmung liegt nicht mehr im Körper lokalisiert, sondern unbegrenzt im umgebenden Raum.
Gefühle lösen sich von selbst auf, und der Zeithorizont wird als zeitlos erfahren. Körperempfindungen und Gedanken erscheinen nicht mehr als etwas Eigenes, sondern werden als von außen, aus dem Raum, wahrgenommen erlebt. Das, was wahrnimmt, erkennt sich selbst als unvergänglich – dadurch fehlt die Grundlage für belastende Emotionen, und es stellt sich eine tiefe Gleichmütigkeit gegenüber den Erscheinungen ein.
Diese Gleichmütigkeit ist keine Leere oder Gleichgültigkeit, sondern wird als Fülle empfunden. Je nachdem, welcher Aspekt der Wahrnehmung im Fokus steht, wird das eigene geistige Spiel als Freude erlebt. Die unbegrenzte Weite des eigenen Geistes offenbart sich als Liebe gegenüber allem, was ist.
Ein Gefühl von Klarheit macht Erleben unmittelbar. Diese Gegenwärtigkeit führt zu einem Aha-Erleben, in dem jeder Moment als neu und einzigartig erfahren wird.
Die Suche nach Ego-Losigkeit zielt nicht darauf ab, dauerhaft erleuchtet zu sein, sondern vielmehr darauf, für einen kurzen Erkenntismoment die Welt ohne das Filter des Egos zu erleben. In diesen flüchtigen Augenblicken wird eine Grundlage gelegt, die langfristig heilsame Impulse für die geistige Entwicklung setzt und das Potenzial für tiefere Transformationen im Leben freisetzt.
Abschlussbetrachtung:
Erkenne, dass du nicht deine Gedanken und Gefühle bist. „Du“ bist der wahrnehmende Raum, in dem sie erscheinen. Sie kommen und gehen, das was wahrnimmt bleibt unberührt.
Fazit
Alle belastenden Gefühle entstehen durch die Identifikation mit dem Ego und dessen Geschichten. Wer lernt, überpersönlich zu beobachten und im Raum der Wahrnehmung zu verweilen, erkennt: Das Selbst ist nicht lokalisiert, sondern entfaltet sich im offenen Feld.
Jetzt tiefer einsteigen?
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